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Die SCHIRN widmet sich vom 8. Oktober 2021 bis 6. Februar 2022 dem Gesamtwerk Paula Modersohn-Beckers und zeigt in einer umfassenden Retrospektive, wie entschieden sie sich über gesellschaftliche und künstlerische Konventionen ihrer Zeit hinwegsetzte und zentrale Tendenzen der Moderne vorwegnahm.

­Keine andere deutsche Künstlerin der Klassischen Moderne hat in der öffentlichen Wahrnehmung einen solch legendären Status erreicht wie Paula Modersohn-Becker (1876–1907). In ihrem kurzen Leben schuf sie ein umfassendes und facettenreiches Œuvre, das über 100 Jahre zur Projektionsfläche wurde und bis heute fasziniert.
Die Ausstellung versammelt in Frankfurt 116 ihrer Gemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen, darunter Hauptwerke, die heute als Ikonen der Kunstgeschichte gelten, etwa das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906). Präsentiert wird ein aktueller Blick auf das Werk dieser frühen Vertreterin der Avantgarde. In der nach prägnanten Serien und Bildmotiven gegliederten Präsentation stehen insbesondere auch Modersohn-Beckers außergewöhnlicher Malduktus und ihre künstlerischen Methoden im Fokus, die zu einer vielfältigen Rezeption ihres Schaffens beitrugen.
Ab 1898 lebte Paula Modersohn-Becker in der Künstlerkolonie Worpswede, unterbrochen durch vier längere Aufenthalte in Paris. Ihr umfangreiches Œuvre aus rund 734 Gemälden und etwa 1500 Arbeiten auf Papier spiegelt die Einflüsse dieser beiden gegensätzlichen Orte deutlich wider. Trotz fehlender weiblicher Vorbilder und auch während ihrer Ehe mit dem Worpsweder Landschaftsmaler Otto Modersohn verfolgte sie mit großer Disziplin ihre eigenständige künstlerische Entwicklung. Ihre Werke entstanden in oft einsamer Auseinandersetzung mit der älteren Kunstgeschichte und aktuellen Tendenzen der Kunst, die sie in der französischen Metropole studierte. In großen Werkserien umkreist sie ein wiederkehrendes Repertoire von Bildmotiven: Einen besonderen Schwerpunkt stellen Porträts und Selbstporträts dar, weitere zentrale Werkkomplexe sind Kinderbildnisse, Darstellungen von Mutter mit Kind, Bäuerinnen und Bauern, Akte, Landschaften aus Worpswede und Paris sowie Stillleben. Dabei fand sie zu überzeitlichen, allgemeingültigen Bildern und unabhängigen Darstellungen. Ihre Arbeiten sind rigoros, bisweilen radikal anders als die ihrer Zeitgenossen. Dem hohen eigenen Anspruch der Künstlerin steht ihr zu Lebzeiten völlig ausbleibender äußerer Erfolg gegenüber. Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk als Entdeckung gefeiert, gesammelt und ausgestellt, dabei in seiner Ambivalenz vielfach vereinnahmt.

Dr. Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, erläutert: „Paula Modersohn-Becker fasziniert bis heute: Während die einen sie als populäre Malerin von Kinderbildnissen, Müttern, Bauern und norddeutscher Landschaft schätzen, wird sie von anderen als Ausnahmekünstlerin der Moderne gefeiert und neben Cézanne und Picasso gestellt. Gerade diese Vielstimmigkeit ihrer Rezeption war für die Schirn Anlass, unser Publikum einzuladen, ihr Werk in Frankfurt in seiner Gesamtheit neu zu betrachten.“

Ein besonderer Fokus im Schaffen Paula Modersohn-Beckers liegt auf der Darstellung des Menschen, dem Porträt. Insbesondere ihre Selbstporträts sind eines ihrer wichtigsten künstlerischen Experimentierfelder und bilden den Auftakt der Ausstellung in der Schirn. Zu sehen ist eine Auswahl dieser malerisch und stilistisch höchst unterschiedlichen Werkgruppe, die ihre gesamte Entwicklung spiegelt und als fortwährender Akt der künstlerischen Selbstvergewisserung diente. Bereits in dem frühen Selbstbildnis (um 1898) wird ihre zentrale malerische Methode sichtbar: die Nahsicht. Das Bildfeld wird komplett ausgefüllt, indem das Gesicht der Künstlerin nah herangerückt ist. Während ihres zweiten Aufenthalts in Paris 1903 fand Modersohn-Becker in der Frontalität römisch-ägyptischer Mumienporträts im Louvre eine Form der Verallgemeinerung, die in der Verbindung von direkter Nähe und zeitlosen Elementen ihren künstlerischen Bestrebungen entsprach und die sie u.a. in Selbstbildnis mit weißer Perlenkette (1906), Selbstbildnis mit rotem Blütenkranz und Kette (1906/07) oder Selbstbildnis mit Zitrone (1906/07) aufgriff. Auch die pastose Malweise der in der Technik der Enkaustik angefertigten und mit dem Spachtel aufgetragenen antiken Vorbilder prägte Modersohn-Beckers Schaffen. Ab 1898 und vermehrt ab 1902 bevorzugte sie eine besonders matte Tempera, deren Oberfläche sie in einigen Fällen mit dem Pinselstiel bearbeitete. Mehr als die Hälfte ihrer Selbstporträts entstand 1906/07, als sie sich – getrennt von Otto Modersohn – in Paris aufhielt und ihren Weg als Künstlerin suchte. Sieben davon zeigen die Malerin halb oder ganz entkleidet. Eine Sonderrolle nimmt das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906) ein, der erste bekannte Selbstakt einer Künstlerin und zum Zeitpunkt der Entstehung nicht ausstellbar. Das komplexe Werk liefert zahlreiche Anspielungen auf kunsthistorische Vorläufer und deutet diese zu einer um 1900 äußerst gewagten Selbstdarstellung um. Nackt und mit angedeuteter Schwangerschaft stellt sich Modersohn-Becker selbstbewusst und feminin dar – doppelt potent als Künstlerin und als Frau.
Neben den Selbstbildnissen zeigt die Ausstellung Porträts von Personen aus dem persönlichen Umfeld der Künstlerin in Worpswede und Paris, u.a. von Otto Modersohn, Rainer Maria Rilke, der zu den wenigen und wichtigen Unterstützern der Künstlerin zu Lebzeiten zählte, von der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff oder der befreundeten Helene Hoetger.
 8. Oktober 2021 bis 6. Februar 2022

Paula Modersohn-Becker, Sitzender Mädchenakt mit Blumen, 1907, Öltempera auf Leinwand, 89 x 109 cm, Von der Heydt-Museum, Wuppertal © Von der Heydt-Museum Wuppertal

Paula Modersohn-Becker, Sitzender Mädchenakt mit Blumen, 1907, Öltempera auf Leinwand, 89 x 109 cm, Von der Heydt-Museum, Wuppertal © Von der Heydt-Museum Wuppertal

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