Ob progressive Gegenwartskunst oder zukunftsorientierte Forschung: Immer mehr entwickelt sich Sankt Pölten, die boomende niederösterreichische Landeshauptstadt, zu einem beeindruckend dynamischen Hotspot kreativen Schaffens mit weitreichender Wirkung und interna­tionaler Strahlkraft. Daher ist es auch bestens nachvollziehbar, dass hier im Jahr 2024 mit der Tangente St. Pölten eines der größten und spannendsten österreichischen Festivals seine Premiere feiert – ein Festival, dessen spartenübergreifendes, sozial inklusives und ökologisch orientiertes Programm sich aus bildender Kunst, Theater und Performances, Musik, Literatur sowie Wissenschafts- und Diskursformaten zusammensetzt und einflussreiche Protagonistinnen und Protagonisten der Szene in die Stadt an der Traisen bringt. Das Wegweisende an vielen Veranstaltungen: Die für die Gegenwart essenziellen und weltweit relevanten Themen Ökologie, Erinnerung und Demokratie werden auch aus dem Stadtgeschehen und seiner Geschichte heraus entwickelt. Nachfolgend sollen nun einige Höhepunkte des umfangreichen Programmkalenders näher beleuchtet werden.

Christian Philipp Müller, Ein Bad für Florian, skulpturale Intervention © eSeL

Christian Philipp Müller, Ein Bad für Florian, skulpturale Intervention © eSeL

Schon seit Herbst 2023 ist auf dem neu gestalteten Domplatz von Sankt Pölten die skulpturale Intervention Ein Bad für Flo­rian des renommierten Schweizer Konzeptkünstlers Christian Philipp Müller zu erleben. Dort, wo sich im 3. Jahrhundert nach Christus in der römischen Stadt Aelium Cetium der Palast des Statthalters befand, lässt Müller bis Mai 2024 das Unsicht­bare, das Vergangene, das einst da Gewesene auf sinnliche Weise wieder anwesend werden; dieser vielschichtigen performativen Skulptur auf historischem Boden wird danach ein Projekt der aus Mexiko stammenden Künstlerin Mariana Castillo Deball folgen.
Als ein ungemein faszinierendes Highlight der Tangente St. Pölten 2024 muss zudem der von Joanna Warsza (Tangente-Kuratorin für bildende Kunst) entwickelte „Kunstparcours“ mit 30 künstlerischen Positionen entlang der Gewässer Sankt Pöltens erwähnt werden. „Die Projekte“, erzählt Warsza, „bestehen teils aus neuen Auftragsarbeiten, teils aus bereits existierenden Werken, die an die neuen Kontexte angepasst wurden: von Zeichnungen, die das Wasser anfertigt, über im Fluss schwimmende In­strumente bis hin zu Hörstücken über das, was sich unter der Wasseroberfläche befindet.“ Zu erleben ist eine einzigartige „Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Fluss“, die auf ­einer Tour mit dem Fahrrad, zu Fuß und, so Warsza, vielleicht sogar mit dem Kajak erkundet werden kann, aber auch den zufällig Vorbeikommenden interessante Entdeckungen bietet.

Joanna Warsza, Kuratorin für Bildende Kunst, Tangente St. Pölten - Festival für Gegenwartskultur © Jürgen Völkl

Joanna Warsza, Kuratorin für Bildende Kunst, Tangente St. Pölten – Festival für Gegenwartskultur © Jürgen Völkl

Im Festspielhaus Sankt Pölten steht überdies eine ebenso brisante wie aufrüttelnde Oper auf dem Programm: Milo Rau, der international gefeierte Schweizer Theatermacher und neue Intendant der Wiener Festwochen, entwickelt in der Oper Jus­tice ein chorisches und elegisches Werk über eine Umweltkatastrophe im Kongo und das Schicksal eines Dorfs in Zeiten der Globalisierung – das Theater ist hier als politischer Ort zu sehen, an dem globale Diskurse kollektiv verhandelt werden. Dabei mischen sich Stimmen von Geistern und Opfern, Schuldigen und vermeintlich Schuldigen mit den Mythen der nicht nur an Bodenschätzen reichen Re­gion. Als Co-Librettist konnte der in Graz lebende kongolesische Autor Fiston Mwanza Mujila gewonnen werden, die Musik stammt vom katalanischen Komponisten Hèctor Parra. Ein hochkarätiges Ensemble ist auch auf der Bühne zu erleben, und der formidable Dirigent Titus Engel steht am Pult der Niederösterreichischen Tonkünstler.

Tonkünstler-Orchester, Festspielhaus St. Pölten © Werner Kmetitsch

Tonkünstler-Orchester, Festspielhaus St. Pölten © Werner Kmetitsch

Die außergewöhnliche, unter anderem von der Tangente St. Pölten, den Berliner Festspielen und dem Festival d’Avignon koproduzierte und vom Théâtre Vidy-Lausanne und Rimini Apparat realisierte Produktion Shared Landscapes wiederum führt mit sieben zeitgenössischen Stücken an den Rand von Sankt Pölten, um dort, so die Ankündigung, „einen ganzen Tag zwischen Bäumen, Wiesen, mensch­lichen und nicht menschlichen Bewohnern zu verbringen. Unter freiem Himmel entsteht eine neue Art von Gemeinschaft am Übergang zwischen Stadt und Land.“ Die intensive, unbedingt empfehlenswerte Aufführung, die von Caroline Barneaud und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) konzipiert und kuratiert wird, beinhaltet einen mehrstündigen Spaziergang mit künstle­rischen Interventionen, Performances, Audiotouren, Musikpartituren, Choreografien und Medienkunst.
Weitere Höhepunkte des Festivals Tangente St. Pölten 2024 sind überdies Katalog der Vögel mit dem französischen Starpianisten Pierre-Laurent Aimard und der wunderbaren Schauspielerin Birgit Minichmayr, die sich mit Olivier Messiaens 13-teiligem, tief in die Welt des Vogel­gesangs eintauchendem Zyklus Catalogue d’oiseaux auseinandersetzen; die Uraufführung der österreichisch-italienisch-niederländischen Musiktheaterproduk­tion Alfa Romeo und die elektrische Giulietta, in der das international renommierte Kollektiv Wunderbaum eine zukunftsweisende Erzählung über die einstige Vision einer schönen, neuen (Auto-)Welt schafft, der heute Schönheit und Neuheit zunehmend abhandenkommen; die Aufführung von Marta Górnickas Mothers. A Song for Wartime, einer packenden, um gewalttätige Kriegsrituale kreisenden Musiktheaterproduktion im Landestheater, in deren Zentrum ukrainische, polnische und weißrussische Mütter und deren Kinder stehen; Alien Disko mit den Indie-Rock-Koryphäen The Notwist und ihrem exklusiv für die Tangente und das Festspielhaus entwickelten Programm; das brillante Tanztheaterstück New Work von Crystal Pite und Jonathon Young, in dem das Bedürfnis des Menschen nach Zugehörigkeit auf fesselnd-emotionale Weise erkundet wird; und der weitsichtige Tanzabend „blue nile to the galaxy around olodumare“ von Jeremy Nedd und der Gruppe Impilo Mapantsula, die den verschlungenen Erfahrungen afrikanischer Diaspora nachspüren und Spiritual, Cosmic Jazz wie auch Afrofuturismus als Geste der Befreiung auf unvergleichliche Art zu verschmelzen wissen.
30. April bis 6. Oktober 2024
www.tangente-st-poelten.at