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Die documenta verdankt ihren Aufstieg zur erfolgreichsten deutschen Kunstausstellung nicht zuletzt der politischen Dimension: der Absetzung vom Nationalsozialismus und der Blockbildung im Kalten Krieg. Sie versuchte sich zwar von der NS-Kulturpolitik abzugrenzen, verweigerte sich aber einer offenen Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Zugleich bedeutete die politisch motivierte Westorientierung eine entschiedene Distanzierung vom sozialistischen Kunstbegriff des „Ostblocks”.

Das Deutsche Historische Museum zeigt mit „documenta. Politik und Kunst“ die erste Ausstellung, die anhand der berühmten Kassler Großausstellung die vielfältigen Wechselwirkungen von Politik und Kunst in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nach 1945 in den Blick nimmt.
Seit ihrer Gründung 1955 war die international orientierte Großausstellung ein Ort, an dem das westdeutsche Selbstverständnis verhandelt wurde. Seitdem erhoben die Macher*innen alle vier, später fünf Jahre den Anspruch, Einblicke in aktuelle künstlerische Tendenzen zu geben. Erstmals stellt das Deutsche Historische Museum die Geschichte der ersten bis zehnten documenta in den Kontext der politischen, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1997. Kunstwerke, Filme, Dokumente, Plakate, Oral-History-Interviews und andere kulturhistorische Originalzeugnisse illustrieren, wie die documenta als Kunstereignis und zugleich als historischer Ort politisch-sozialen Wandel kommentiert, einfordert und widerspiegelt. Zu sehen sind berühmte documenta-Exponate von Max Beckmann, Willi Baumeister, Joseph Beuys, den Guerrilla Girls, Hans Haacke, Séraphine Louis, Wolfgang Mattheuer, Emy Roeder, Andy Warhol oder Fritz Winter.
Seit ihrem Beginn präsentierte sich dem documenta-Publikum mit der künstlerischen Moderne eine Epoche, die in Deutschland bis 1945 als „entartet“ gegolten hatte. Das Programm, mit dem sich die Bundesrepublik ihren westlichen Partnern hier empfahl, speiste sich aus einer Vergangenheit, die man vorgab, überwinden zu wollen. Dabei war fast die Hälfte derjenigen, die an der Organisation der ersten documenta mitwirkten, Mitglied von NSDAP, SA oder SS gewesen. Werke ermordeter jüdischer oder verfolgter kommunistischer Künstler waren in Kassel hingegen nicht vertreten. Für die Opfer von Verfolgung, Krieg und Massenmord schien kein Platz in der Erzählung vom vermeintlichen Neuanfang der jungen Bundesrepublik.
Die documenta war eng an das politische Programm der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre gebunden und spiegelte die Spannungen des Kalten Kriegs wider. Die ehemals diffamierte moderne Kunst stieg aufgrund der beträchtlichen Förderung und Indienstnahme von Seiten der Politik zur Staatskunst und damit zum Mittel der Anbindung an den „Westen” auf. Gerichtet war die Großveranstaltung in „Zonenrandlage” zwar auch an ein ostdeutsches Publikum, ostdeutsche Kunst blieb jedoch unerwünscht. Erst in den 1970er Jahren rückten im Zuge von Willy Brandts neuer „Ostpolitik” ostdeutsche und osteuropäische Künstler in den Blick.
Die documenta machte Karriere als internationales Großereignis mit Festivalcharakter, junge Menschen diskutierten vor Ort mit Künstler*innen. In bildungsbürgerlichen Teilen des Publikums sorgte sie verlässlich für Irritationen bis hin zu Gegendemonstrationen. Die Marke „documenta” stieg in den folgenden Jahrzehnten international zum Modell eines ebenso populären wie wirtschaftlich orientierten Kunstevents in einer globalisierten (Kunst-) Welt auf. Sie war immer wieder auch eine Plattform für politischem Aktivismus, wie nicht nur die feministische Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls 1987 auf der documenta 8 eindrucksvoll bewies.

Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum: „Die documenta ist stets weit mehr als eine glänzende Kunstschau gewesen. Mit ihr stieg die bis 1945 verfemte Moderne zur Lieblingsepoche der jungen Bundesrepublik auf. Die moderne Kunst diente den frühen Machern der documenta als willkommene Abgrenzung von der NS-Vergangenheit. Dabei gibt es auch Kontinuitäten: Der Historiker Carlo Gentile zeigt etwa Verstrickungen Werner Haftmanns – einer der Schlüsselfiguren der frühen documenta – in Kriegsverbrechen im Sommer 1944. Werke ermordeter jüdischer Künstlerinnen und Künstler hatten nicht zufällig in dem von Haftmann inszenierten Bild der Moderne keinen Platz. Mit unserer Ausstellung vollziehen wir jetzt erstmals systematisch nach, wie mit Kunst auf der documenta Politik gemacht wurde. Damit eröffnen wir, so hoffe ich, eine neue Perspektive auf die Geschichte der Bundesrepublik.”
18. Juni 2021 bis 9. Januar 2022

www.dhm.de