Die Aufarbeitungsdefizite um rechtsextreme Gewalttaten in Kassel und Deutschland, in denen der Verfassungsschutz eine genauso ambivalente Rolle spielt wie die Landes- und Bundespolitik, haben nicht nur ihre Akteure zweifelhaft berühmt gemacht, sondern auch eine Reihe von Skandalen ausgelöst. Das Schweigen, das Spekulative ist zum Kern der Debatte geworden – so beschlossen CDU und Grüne in Hessen gemeinsam, die NSU-Akten für die nächsten 30 Jahre vor öffentlicher Einsicht gesperrt zu lassen. Was ist also der spezifische Klang dieses Schweigens?
Diese Frage ist Grundlage für das neue Musiktheater-Auftragswerk des Staatstheaters Kassel an den Komponisten Genoël von Lilienstern, der mit seinen Kompositionen bereits in der Vergangenheit Strategien entwickelt hat, die Wirklichkeit zum kompositorischen Material zu machen und gleichsam in sie zurück zu wirken.
Unterstützt wird Lilienstern dabei vom Dramatiker Dirk Laucke, der mit seinen Theaterarbeiten – zuletzt mit der Auftragsarbeit Auf Wache im Kasseler Schauspiel 2022 – für einen gesellschaftspolitisch präzisen, aber nicht minder poetischen Blick auf die Schmerzpunkte der Gegenwart steht. Sein Text problematisiert die vielschichtige Quellenlage einer schier undurchschaubaren politischen Gemengelage und schreibt sie poetisch und humorvoll fort. Liliensterns Musik wird so auch selbst zur Akteurin, verhält sich zum Geschehen, versucht Sinn zu stiften, verliert sich in Details – und geht mit Klangfeldern und Drones auch in klangliche Extreme. Die Sänger schlüpfen in verschiedene Rollen, immer wieder die spekulativen Hintergründe durchspielend. Zentral ist dabei der singuläre Sound des Komplexes und seiner Akteure. Lässt sich hören, was nicht ausgesprochen, sondern verdrängt wird? Was ist der Sound eines Schweigekomplexes?
Uraufführung 8. Juli 2023
weitere Aufführungen: 11., 15. und 19. Juli 2023