Gustav Mahler – der Komponist, dem es gelang, die Symphonie in einen Kosmos zu verwandeln und dabei eine ganze Welt zu erschaffen, und das auf gänzlich unkonventionelle Weise: als Jongleur und Beherrscher zahlloser Stilmittel. Als Künstler, der das Wesentliche durch das Uneigentliche auszudrücken verstand. Als Mediator, der die Diskussion zwischen den Anhängern „absoluter” Musik und denjenigen der Programmmusik gegenstandslos werden ließ, da er beides mühelos miteinander verschmolz.
Seine Musik hat alle Eigenschaften eines Soundtracks jener künstlerischen und speziell literarischen Erscheinungen, die wir heute ungeachtet ihrer Heterogenität unter dem Begriff Fin de siècle zusammenfassen. Wie ein Brennglas bündelte Mahler die musikalischen Errungenschaften des Jahrhunderts, dessen Ende er als Vierzigjähriger miterlebte. Seine Symphonien warfen, um im Bild zu bleiben, gleichsam ihre fokussierten Strahlen voraus in eine Zukunft, deren Ahnung allein viele seiner Zeitgenossen zutiefst beunruhigte.
Gerade die neunte Symphonie galt unter Kollegen wie Arnold Schönberg und Alban Berg als eine Art Geburtsstunde der musikalischen Moderne. Mahler komponierte die Neunte in einem wahren Schaffensrausch im Sommer 1909 in Toblach. Als konsequente Fortentwicklung des Kompositionsstils, den er in der fünften, sechsten und siebten Symphonie ausgelotet hatte und der nicht zuletzt von Brüchen gekennzeichnet ist, präsentiert sich die Neunte schon nach rein musikarchitektonischen Gesichtspunkten als ein Werk des Zerfalls und des Abschieds. Kaum ein Motiv, das sich noch zu einem Thema oder gar zu einer Kantilene entfaltet, doch die sehnsuchtsvolle Erinnerung daran ist in jeder Note zu spüren. Die viersätzige Anlage scheint der Formtradition der Gattung zu entsprechen, doch sie ist auf den Kopf gestellt:
Die langsamen Sätze sind hier zu gewichtigen Ecksätzen geworden; der Kopfsatz eröffnet mit einem Seufzermotiv und das Finale endet statt mit einer Apotheose in einem langsamen „Ersterben“, doch so, als ob es nie enden möchte. So ist Mahlers Neunte ein vielschichtiges Abbild seiner persönlichen, von Krankheit und Verlust geprägten Disposition wie auch dasjenige eines gewaltigen Paradigmenwechsels, dem sich die Welt im Allgemeinen wie die Musikgeschichte im Besonderen in jenen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ausgesetzt sah.
10. Juni 2022