Die Volksbühne ist ein traditionsreiches Theater in Berlins Mitte. Im April 2018 hat Klaus Dörr kommissarisch die Intendanz des Hauses übernommen. Seit ihrer Gründung ist die Volksbühne auf die Entwicklung und Wirkung neuer Regieformen angelegt. 1914 erbaut vom Architekten Oskar Kaufmann, verfügt das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz heute über 800 Zuschauerplätze. Allein durch Spenden der Mitglieder des Vereins Freie Volksbühne, sogenannte Arbeitergroschen, konnte der Bau des Theaters finanziert werden. Max Reinhardt, Erwin Piscator, Benno Besson, Heiner Müller, Frank Castorf, Christoph Schlingensief – die Volksbühne ist geprägt von starken Regie-, Autoren- und Künstlerpersönlichkeiten, die die Grenzen des klassischen Sprechtheaters unablässig neu vermessen haben.
Unter einem Dach versammelt die Volksbühne Theater, Tanz, Performance, Musik, Kino, Bildende Kunst und Kulturen des Digitalen. Im Zentrum stehen das Nachdenken über das Zeitgenössische, die Zukunft des Theaters und neue Verbindungen zwischen den Formen, Disziplinen und Praktiken. Künstlerinnen und Künstler sind aus Berlin, Europa und der Welt eingeladen, in die sich verändernde Stadtgesellschaft hineinzuwirken. Hier Empfehlungen der neuen Spielsaison:
„Mourning becomes Electra” von Eugene O’Neill
Eine Familienhölle im Dauerloop. Auch Jahrhunderte nach Aischylos’ Orestie und unzähligen literarischen Bearbeitungen muss Elektra immer noch Trauer tragen. Auch O’Neills Elektra wartet auf die Rückkehr ihres Vaters Ezra Mannon aus dem Krieg, um die alte Familienordnung wiederherzustellen und dem Verhältnis ihrer Mutter zu Adam Brant ein Ende zu bereiten. Immer noch wartet sie auf die Rückkehr ihres Bruders Orin, der Rache an der Mutter üben soll. Doch als Ezra zu Hause eintrifft, ist es längst zu spät für ein Rollback der ursprünglichen familiären Konstellationen. Der Kriegsschauplatz wird zur familiären Kampfzone, in der alle zu Getriebenen ihrer Obsessionen und Spielbälle der Anderen werden. Einzig Gewalt scheint einen radikalen, aber ersehnten Ausweg aus der Familienmisere herbeiführen zu können.
Eugene O’ Neill, der scharfsinnige Desillusionist des American Way of Life, schreibt eine Soap im historischen Gewand der 1860er Jahre und findet die gesellschaftlichen Fragen nach Verantwortung, Pflicht und Selbstbestimmung im vertrauten Kreis der Familie wieder. Dem erzählerischen Repertoire des Realismus folgend, versetzt er die bürgerliche Ordnung mit archaischen Motiven in Schrecken und dringt tief in die dunklen Seelenkammern des gesellschaftlichen Unterbewusstseins ein. Familie erscheint bei O’Neill als undurchdringliches Dickicht aus Liebe, Lügen und Begehren, wo sich psychologische Erkenntnis über die verborgenen Winkel menschlicher Abgründe in erotischen Fantasien und entfesselter Gewalt offenbart und soziale Kälte die Beziehungen zwischen den Menschen prägt. The American Nightmare is back.
Premiere 16. Oktober 2020
„come as you are” (jokastematerial oder der kapitalismus wird nicht siegen) von Fritz Kater
Berlin, Straße der Pariser Kommune, 2005 oder 2015 oder heute. In diesem Plattenbau in Friedrichshain kreuzen sich die Wege einiger ziemlich einsamer und auch ziemlich seltsamer Menschen: Eine 72jährige Frau betrachtet einen vietnamesischen Gemüsehändler als ihren Ziehsohn, ein ehemaliger Knasti versucht einen ehemaligen Kulturschaffenden vom Suizid abzuhalten, eine blinde Frau aus Dänemark diagnostiziert einen Brustkrebs, eine alleinerziehende Mutter sucht eine Babysitterin, ein Paar aus dem Donbass verdient auf der Hochzeitsreise in Berlin ein bisschen Geld, ein arbeitsloser Ingenieur wohnt in einem Keller, um seiner 19jährigen Tochter nah zu sein …
In Fritz Katers neuem Stück lauern prekäre soziale Umstände überall, und ökonomisch werden diese Figuren wohl auf keinen grünen Zweig mehr kommen. Trotzdem: In der Unsicherheit blühen Lebenslust, Erfindungsgeist, fatalistische Überdrehtheit und überraschende Zärtlichkeit, und wahrscheinlich ist diese Welt trotz allem die beste aller möglichen, weil all dies darin möglich ist.
Das Stück ist für die Volksbühne und das Düsseldorfer Schauspielhaus und für Schauspieler beider Ensembles entstanden. An der Volksbühne wird es im Kontext des Schwerpunkts Antike der kommenden Spielzeit stehen. Regie wird Armin Petras führen, der mehrere Stücke von Fritz Kater uraufgeführt hat. Auf der Bühne wird ein gemischtes Ensemble der beiden Häuser stehen.
Premiere 4. Dezember 2020
„Metamorphosen” [overcoming mankind] nach Ovid & Komplizen
In gut 250 Verwandlungsgeschichten, die Ovid vor etwa 2000 Jahren im Rückgriff auf die griechische Mythologie zu einem poetischen Meisterwerk verbunden hat, entwickelt er einen Geschichtskosmos über das Menschsein in seiner Entfaltung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ovid beschreibt die Entstehung der Welt aus dem Chaos, die Erschaffung des Menschen als Krone der Schöpfung im Goldenen Zeitalter und eine große Sintflut als Abgesang auf das Menschengeschlecht. Als Strafe für das menschliche Zerstörungswerk auf der Erde vernichtet Jupiter die gesamte Spezies und leitet ein neues Zeitalter ein, das nicht von anthropozentrischer Vernunft bestimmt ist. Wann immer Ovids Helden und menschenähnliche Götter in Not geraten oder einen utopischen Zustand herbeisehnen, überwinden sie die biologisch-genetischen Grenzen des Menschseins und verwandeln sich in Pflanzen, Tiere, Steine.
Wie lässt sich auf den gedanklichen Spuren Ovids Zukunft anders als dystopisch denken? Wie lässt sich eine imaginäre Zukunft konstruieren, die den Blick auf die zerrüttete Gegenwart schärft und posthumane Existenzweisen und artenübergreifende Verwandtschaften innerhalb des ökologischen Systems erprobt? In einem spekulativen Gedankenexperiment zwischen Science-Fiction und Science Facts, das zeitgenössische Überlebensstrategien von Dietmar Dath, Donna J. Haraway, Bruno Latour, James Lovelock oder Stefano Mancuso als Komplizen von Ovids Verwandlungsgeschichten heranzieht, macht sich die Regisseurin Claudia Bauer mit ihrem Ensemble auf die Suche nach Erzählungen über das Menschsein außerhalb der Fabel des ‚Menschen in seiner Geschichte’. So finster der Weltzustand auch ist, eines ist klar: Das Ende des Anthropozäns muss nicht das Ende der Welt bedeuten.
Premiere Januar 2021