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„Big Brother is watching you“ lautet das düstere Mantra im totalitären Regime Ozeaniens des Klassikers „1984“. Fragen der Überwachung und Manipulation als zentrale Mittel der Kontrolle der Gedanken sind heute aktueller denn je. Das Orwellsche Bedrohungsszenario ist mittlerweile 75 Jahre alt, die Gefahren für eine freiheitliche, plurale Gesellschaft sind im Zeitalter der sich rasanter entwickelnden technologischen Fortschritte aber längst keine Zukunftsvision mehr. An Orwells Roman orientiert, wird diese weltbekannte Geschichte neu erzählt. Damals wie heute schwebt über allem die grundsätzliche Frage: In welcher Gesellschaft wollen und können wir leben?

Die Darmstädter Neuinterpretation von Orwells Dystopie geht raffiniert und klug mit der Frage nach „1984 heute“ um. Denn natürlich reicht es nicht aus, bloß zu prüfen, was von Orwells vermeintlicher Prognose eingetreten ist (und was nicht). Orwells Buch ist gar keine Prognose, es ist vielmehr ein Buch über das, was auf Dauer existenziell ist und auch auf Dauer gefährdet. Ebenso wäre es Unsinn zu fragen, wie sich wohl von heute aus gesehen zukünftig die Welt verdüstern könnte. Denn sie hat sich schon verdüstert. Klimakatastrophe, Hunger, neue Kriege, dazu Digitalisierung mit sehr vielen indirekten Folgen: „Fake“, hässliche Verschwörungsmythen und gedankliche Gleichschaltung wie auch Menschen, die in Filterblasen verlorengehen. Ganz sicher gibt es bösartige Regierungsspitzen. Bösartigkeit, die System hat, kann aber auch anderswie entstehen. Und leider scheinen gerade Digitaltechnologien durch verteilte Mechanismen sowohl die Überwachung zu erleichtern als auch Attacken, vor denen uns gerade keine Überwachung mehr schützt. Ebenso beginnen wir gerade zu verstehen, dass Digitalisierung nicht nur das Suchen, das Rechnen, Maschinenaufgaben oder Bildverarbeitung automatisieren kann, sondern tatsächlich das Sprechen und Schreiben – die Sprachfindung selbst. Zumindest, wenn die Masse an Beispielen für das Hervorbringen von Sprache groß genug ist, können beeindruckende Large-Language-Modelle entstehen. Solche „LLMs“ bringen Zeichenketten hervor, die als Texte funktionieren. Oder auch als Programmiercode. Und wo es nur auf das Funktionieren ankommt, können Sie das Formulieren, die geistige Anstrengung des sprachlichen Ausdrucks, ersetzen. Was die Nutzung solcher Sprachersatz-Formulierungssoftware in Zukunft mit unserer Gesellschaft und mit unserem Bildungsstand machen wird, wissen wir noch nicht. Orwell wäre nicht optimistisch gewesen. Dennoch hat Kristo Šagor vielleicht nicht ganz die gleiche Botschaft für uns wie seinerzeit Orwell. Wir erfahren eine Maschinerie, die sehr lang Widerstand zulässt, weil sie irgendetwas ja übriglassen muss von den Menschen, und weil sogar Kontrollanstrengungen letztlich nie in jeder Hinsicht zeitstabil bleiben, weil Zeit sich durch Erzählen, Erinnern und Vorausblicken vervielfältigen kann. Auch wenn das, was die Maschinerie übriglässt, rasend gealterte Menschen sind, auch wenn Winston erschossen werden wird, so wie Julia auch: Die Angst ist zwar da, aber sehr lange lähmt sie nicht völlig. Wo alle Angst kennen, gibt es auch in dieser Hinsicht (fast) so etwas wie Virtuosität. Uns bleibt das Wissen, was ein Neuanfang ist und dass wir ihn im gemeinsamen Handeln her- vorbringen können. Voraussetzung ist die gemeinsame Erinnerung an das, was vergangen ist. Und vielleicht kann dann eine zerstörte Liebe ein Danach der zerstörten Liebe kennen.

1984 © Björn Hickmann

1984 © Björn Hickmann

Allerdings nimmt uns das Stück die Last nicht von den Schultern. Es bleibt ultimativ grausam, wie die Mechanismen der totalen Herrschaft, die es vorführt. Wir lernen, was wir nicht wollen können. Wir lernen, dass Geräte, die sich für alles Mögliche verwenden lassen, nichts Harmloses sind. Und gerade Digitaltechnologien las- sen sich für eine Unzahl von Zwecken verwenden, auch den furcht- barsten. Die Zukunft könnte schlimm werden. Wir müssen also rechtzeitig wir selbst sein. Ist das eine der Botschaften des Stücks? Jedenfalls lautet eine der Botschaften: Wir sollten rechtzeitig etwas tun. Eine weitere Botschaft: Wir sollten uns um unsere Sprache kümmern – und wir sollten uns um unsere Ängste kümmern. Je weniger Sprachvermögen wir (noch) haben, desto eher packt uns (schon) die Angst – was übrigens einer der Gründe dafür ist, dass Folterer und Diktatoren uns nicht einfach zum Schweigen zwingen, sondern ständig auf uns einreden. Bis wir uns selbst dazu bringen, fünf Finger zu sehen und nicht vier, auch wenn man uns nur vier Finger entgegenhält.
Zimmer 101 – der Raum, in dem jeder und jede sein Letztes, Wichtigstes verrät, das Ende jeder Selbstkontrolle – bleibt in dieser Hinsicht freilich ein Rätsel. Einerseits lebt unsere schlimmste Angst von den Begriffen unserer Phantasie. Hätten wir gar keine mehr, steckte bereits nur noch fremder Text in unseren Köpfen, wären wir auch nicht mehr ultimativ erpressbar. Andererseits ist unsere schlimmste Angst eben deshalb auch ein Zeichen von Leben, sogar von Geschichte, Erinnerung und Kraft. Vielleicht lässt sie, einschließlich der Scham, die wir empfinden und gestehen können, sogar sprachliches Ausdrucksvermögen – eine nicht angebahnte Art des Sprechens, ein neues Miteinander und auch neues Begehren – entstehen.
Vielleicht greifen Sie nach der Aufführung einfach auch nochmal zu Orwells schmalem Büchlein von 1949. Das Theaterstück hat sich souverän davon gelöst. Der alte Text und das neue Stück sprechen aber miteinander. Man kann sie sich gegenseitig anleuchten lassen. …
Petra Gehring und Marlene Görger Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung
7. und 29. Dezember 2023, 24., 25. und 28. Januar, 17. Februar, 10. und 13. März 2024
www.staatstheater-darmstadt.de

1984 © Björn Hickmann

1984 © Björn Hickmann