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Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Kein Konzept prägt unseren Alltag so sehr wie dasjenige der Zeit: Wir benötigen sie zur Selbstverortung und für jeden Planungsprozess. Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte wurde Zeit als so wertvoll erachtet und stand die Qualität, wie sie verbracht wird, derart im Fokus ökonomischer Erfassung und sozialer Bewertung wie heute. Dabei ist Zeit an sich nicht wahrnehmbar, sondern kann lediglich als Verhältnis zwischen dem Jetzt, dem Vorher und dem Nachher betrachtet werden. Zwar ist ihr Verlauf objektiv messbar, ihr Erleben hingegen hängt von individuellen Erwartungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen ab. Zeit verrinnt ohne Absicht und Plan und führt dabei alles unabwendbar in den Zustand des Vergangen-Seins. Es ist die Vergangenheit – nicht die Zukunft – die vor uns liegt, als Haufen von Relikten und Spuren der Menschheit. Heute sammelt sich festgehaltene Vergangenheit in scheinbar ort- und zeitlosen digitalen Datenbanken und auch Kunstwerke sind in Form von Fotos oder Videos mobil geworden und rund um die Uhr abrufbar.

Manuela Kasemir, Afraid of Death (2013) (2013), Fine Art Print auf Aluminiumplatte, 80 x 62 cm, Foto: Manuela Kasemir © the artist

Manuela Kasemir, Afraid of Death (2013) (2013), Fine Art Print auf Aluminiumplatte, 80 x 62 cm, Foto: Manuela Kasemir © the artist

Mit der Zeit hat sich die Kunst schon immer befasst. Im 21. Jahrhundert scheint es ihr dabei allerdings weniger um Bilder zukünftiger Beschleunigungen als um Entwürfe zur Langsamkeit, Dehnung, Wiederholung und zum Stillstand von Zeit zu gehen. Die in der Ausstellung „Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst“ im Kunstmuseum Reutlingen | konkret präsentierten Werke von 13 internationalen Künstlerinnen und Künstlern schärfen das Bewusstsein dafür und machen das Verrinnen erlebbar.

Timo Klos, Detail aus der Installation Komm’ Heinz, wir gehen! (2015–2018), Foto: Timo Klos, © the artist. 


Timo Klos, Detail aus der Installation Komm’ Heinz, wir gehen! (2015–2018), Foto: Timo Klos, © the artist.

So gewähren einige Werke Einblicke in ihren eigenen Entstehungsprozess, andere thematisieren kinetische oder zeitbasierte Prozesse aus Licht, Ton, Gravitation und anderen physikalischen Phänomenen. Manche der beteiligten Künstler untersuchen, auf welche Weise fotografische Aufnahmen vergangene Einzigartigkeit wiederaufleben lassen können und welche Rolle dabei erinnerte Bilder spielen. Andere setzten sich mit der Angst vor dem Tod auseinander oder thematisieren Gegensätze zwischen Jugend und Alter. Ganz konkret wahrnehmbar wird das Verrinnen der Zeit, wo tageszeitlich veränderte Licht- und Farbwirkungen in der Natur festgehalten werden. Anstatt also den Widerspruch zwischen normativer Zeit und erlebter Zeitlichkeit auflösen zu wollen, scheinen die ausgewählten Künstler eher einem philosophischen Diktum von Gilles Deleuze zu folgen: Als stets im Werden befindliche Individuen können Menschen mit den Bedingungen ihres Lebens und Daseins nur dann experimentieren, wenn sie den Fluss der Zeit erkennen.
26. Februar bis 28. August 2022

www.kunstmuseum-reutlingen.de