Zwischen acht Fingern und zwei Daumen, manchmal zwischen Zehen und Zähnen entspannen Fäden Figuren. Fadenspiele können vieles: Sie erzählen Geschichten, sie sind Zeitvertreib, sie machen das Unsagbare zeigbar, sie verbinden Menschen. Als eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit, haben sie Künstlerinnen/Künstler, Performerinnen/Performer, Ethnologinnen/Ethnologen und Theoretikerinnen/Theoretiker inspiriert. Als ästhetische Praxis, als museales Sammlungsgut und als nicht-westliche Denkfigur haben Fadenspiele Wissenschaft und Kunst immer wieder beschäftigt. 

So filmte die Experimentalfilmpionierin Maya Deren den in die USA emigrierten Marcel Duchamp beim Fadenspiel, just nachdem dieser kilometerlange Fäden in seinem surrealistischen Ausstellungdesign verbraucht hatte. Maureen Lander wiederum dekolonisierte Duchamps Boîte-en-valise, indem sie sein berühmtes kleines Koffermuseum mit Fotografien von Māori-Fadenspielen neu bepackte. Andy Warhol filmte in einem seiner Screen Tests Harry Smith, Grenzgänger zwischen Folklore und Kunst, beim Fadenspiel. Und der Ingenieur David Ket’acik Nicolai aus Alaska performt die Figuren, die er von seiner Grossmutter gelernt hatte, als Yu’pik Dave auf TikTok.

Marcel Duchamp, Exhibition design for First Papers of Surrealism, 1942, Courtesy of the Leo Baeck Institute’s John D. Schiff Collection, Foto John Schiff

Marcel Duchamp, Exhibition design for First Papers of Surrealism, 1942, Courtesy of the Leo Baeck Institute’s John D. Schiff Collection, Foto John Schiff

In der Ethnologie galten Fadenfiguren lange Zeit als Universalspiel. Als eine Körperpraxis, die an vielen Orten der Welt anzutreffen ist, speiste sie die epistemologischen Phantasien eines Kulturvergleichs, der Rückschlüsse auf Migrationsrouten oder auf das universell Menschliche ermöglichen sollte. Bereits 1888 beschrieb Franz Boas die Fadenfiguren der Kwakiutl. In der Folge ‘sammelten’ europäisch-amerikanische (oft weibliche) Ethnolog:innen Fadenfiguren, montierten sie auf Pappe oder fertigten Zeichnungen und Fotos an. Medien wie diese ermöglichen jedoch keinen Rückschluss auf die Herstellung der Figuren, weswegen komplexe Notationssysteme entwickelt wurden. Um wiederum der Prozessualität, Performativität und Körperlichkeit des Fadenspiels gerecht zu werden, haben Ethnologinnen/Ethnologen auch Filme von Fadenspielerinnen/Fadenspieler gemacht. Einige dieser Filme finden sich in der Encyclopaedia Cinematographica, deren Ziel es war, die Welt auf Zelluloid zu sammeln und im Sinne einer Rettungsethnologie für die Nachwelt zu bewahren.
In den letzten Jahren hat das Fadenspiel in der Kulturtheorie an Bekanntheit gewonnen. Donna Haraway propagiert ‘string figures’ als Methode für interdisziplinäres und artenübergreifendes Denken und Zusammenarbeiten. Im Gegensatz zur Metapher des Netzwerks bieten Haraways ‘string figures’ eine spielerische, prozessorientierte und verkörperte Denkfigur, bei der die Verantwortung füreinander im Mittelpunkt steht.
Die Ausstellung verbindet Kunst, Anthropologie und Theorie, bringt Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt zusammen und erkundet die Möglichkeiten des Zusammenspielens auf den Ruinen unserer Geschichte.

Mit Werken von:
Maya Deren, Mulkuṉ Wirrpanda, Moritz Greiner-Petter, Donna Haraway, Maureen Lander, Caroline Monnet, Nasser Mufti, David Ket’acik Nicolai, Christoph Oeschger, Harry Smith, Edgar Calel und Maju Vicentin, Jan Bachmann, Katrien Vermeire, Piet Esch, Siena Miḻkiḻa Stubbs, Toby Christian, Seraina Dür und Jonas Gillmann, Andy Warhol, Isabel McLeish, und anderen.
20. November 2024 bis 9. März 2025
www.tinguely.ch

Maureen Lander, String Games (detail, 1998, Seil, Nylon-Angelschnur, fluoreszierendeFarbe, Schnur, Karton, Papier, Leinen, Leim, Video, Fotos, UVLicht, Sammlung des Museums von Neuseeland Te Papa Tongarewa, Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Christchurch Art Gallery Te Puna o Waiwhetū

Maureen Lander, String Games (Detail), 1998, Seil, Nylon-Angelschnur, fluoreszierende Farbe, Schnur, Karton, Papier, Leinen, Leim, Video, Fotos, UVLicht, Sammlung des Museums von Neuseeland Te Papa Tongarewa, Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Christchurch Art Gallery Te Puna o Waiwhetū