Zu Beginn des neuen Jahres präsentiert die Fondation Beyeler Werke des kanadischen Künstlers Jeff Wall (*1946) in einer umfangreichen Einzelausstellung. Es handelt sich dabei um Walls erste Werkschau in der Schweiz seit fast zwei Jahrzehnten. Wall, der massgeblich zur Etablierung der Fotografie als eigenständige Kunstform beigetragen hat, zählt heute zu ihren wichtigsten Vertretern.

Mit über 50 Werken aus fünf Jahrzehnten zeigt die Ausstellung das gesamte Spektrum des bahnbrechenden OEuvres des Künstlers, von seinen ikonischen Grossbilddiapositiven in Leuchtkästen bis hin zu den grossformatigen Schwarz-Weiss-Fotografien und Inkjet-Farbdrucken. Zudem richtet die Ausstellung ein besonderes Augenmerk auf Arbeiten aus den letzten zwei Jahrzehnten, darunter auch Fotografien, die erstmals überhaupt öffentlich zu sehen sind. Die Ausstellung ist in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler entstanden. In seinen Werken lotet Jeff Wall die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, Zufall und Konstruktion aus. Seit Mitte der 1970er-Jahre erforscht er dabei Wege, die künstlerischen Möglichkeiten der Fotografie zu erweitern. Wall bezeichnet seine Arbeiten als „Cinematografie”, da er im Film ein Vorbild für kreative Freiheit und Erfindungskraft sieht, die in der vorherrschenden, als „dokumentarisch” definierten Fotografie in den Hintergrund getreten ist. Viele seiner Fotografien sind konstruierte Bilder, die eine umfangreiche Planung und Vorbereitung, die Zusammenarbeit mit Darstellerinnen/Darsteller und eine Postproduktion erfordern.
Jeff Wall komponiert Bilder, die von der Vorstellung abweichen, dass Fotografie in erster Linie eine getreue Abbildung der Realität ist. Den Auftakt der Ausstellung in der Fondation Beyeler bildet im Foyer das Aufeinandertreffen zweier ikonischer Werke aus dem Jahr 1999. Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona zeigt die frühmorgendlichen Reinigungsarbeiten, die im berühmten Pavillon vor Eintreffen der Besucher und Besucherinnen durchgeführt werden. Eine Reinigungskraft ist gerade dabei, die grossen Fenster an der Gartenseite des Pavillons zu putzen, ein Moment, der normalerweise den Blicken der Besuchenden verborgen bleibt. A Donkey in Blackpool (1999) gewährt einen Blick in einen einfachen Stall, in dem ein Esel in einer Phase des Ausruhens zu sehen ist. Im Dialog der beiden Bilder treffen höchst unterschiedliche soziale und kulturelle Welten aufeinander, wobei die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf ihre Gemeinsamkeiten gelenkt wird – Mensch und Tier stehen beide in einer tiefen Beziehung zu den Räumen, in denen sie sich aufhalten. Die Ausstellung ist so konzipiert, dass sich eine Abfolge derartiger Gegenüberstellungen entfaltet, die Resonanzen zwischen Themen, Techniken und Genres erzeugen.

Jeff Wall, A Sudden Gust of Wind (after Hokusai), Ein plötzlicher Windstoß nach Hokusai, 1993, Grossbilddia in Leuchtkasten, Glenstone Museum, Potomac, Maryland © Jeff Wall

Jeff Wall, A Sudden Gust of Wind (after Hokusai), Ein plötzlicher Windstoß nach Hokusai, 1993, Grossbilddia in Leuchtkasten, Glenstone Museum, Potomac, Maryland © Jeff Wall

Die meisten von Walls neueren Werken sind in der Ausstellung zu sehen, sie sind meist so arrangiert, dass sie in einen Kontrast zu älteren Bildern treten. Fallen rider (2022), das Bild einer Frau, die gerade von ihrem Pferd abgeworfen wurde, hängt gegenüber von War game (2007), auf dem drei Jungen, die offenbar während eines Kampfspiels gefangen genommen wurden, in einem improvisierten Gefängnis flach auf dem Boden liegen, während ein anderes Kind sie bewacht. In Parent child (2019) hat sich ein kleines Mädchen ebenfalls auf dem Boden ausgestreckt, hier nun auf einem Gehweg im sanften Schatten eines Baumes, betrachtet von einem Mann, der wahrscheinlich ihr Vater ist. Wie Filmstills scheinen Walls Bilder einen Augenblick in einem Geschehen festzuhalten, das Davor und das Danach bleiben verborgen. An der angrenzenden Wand hängt Maquette for a monument to the contemplation of the possibility of mending a hole in a sock (2023), das eine in Gedanken versunkene ältere Frau zeigt. Diese hält in der Hand eine Nähnadel und blickt auf ein Loch in der abgenutzten Ferse einer lila Socke. Die Flickerin erscheint unwirklich, wie eine Erscheinung, die die Fähigkeit und den Willen der Menschen hinterfragt, das, was abgenutzt, überbeansprucht oder beschädigt worden ist, wieder instand zu setzen.
Die Ausstellung wird kuratiert von Martin Schwander, Curator at Large, Fondation Beyeler, unter Mitarbeit von Charlotte Sarrazin, Associate Curator.
28. Januar bis 21. April 2024
www.fondationbeyeler.ch